VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.07.1998 - 1 S 2630/97
Fundstelle
openJur 2013, 10802
  • Rkr:

1. Das Betteln ist nicht schlechthin und in jeder seiner Erscheinungsformen typischerweise eine straßenrechtliche Sondernutzung.

2. Das Betteln stellt - jedenfalls in seiner "stillen" Erscheinungsform - abstrakt generell keine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dar. Mit ihm ist auch keine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung verbunden.

3. Die Regelung in einer Polizeiverordnung, die das Betteln auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen schlechthin untersagt, ist nichtig.

Tatbestand

I.

Der Antragsteller, Einwohner der Landeshauptstadt, wendet sich gegen die das Betteln verbietenden Teile der Polizeiverordnung der Antragsgegnerin zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf und an öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen in Stuttgart.

Mit Zustimmung des Gemeinderats erließ der Oberbürgermeister der Antragsgegnerin am 24.11.1994 die Polizeiverordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf und an öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen in Stuttgart (Straßen- und Anlagen-Polizeiverordnung - StrAnlPoVO), die, soweit ihre Regelungen für das vorliegende Normenkontrollverfahren bedeutsam sind, folgenden Wortlaut hat:

§ 1Geltungsbereich und Begriffsbestimmungen(1) Diese Polizeiverordnung gilt für öffentliche Straßen, öffentlicheAnlagen und öffentliche Bedürfnisanstalten im Stadtgebiet Stuttgart.(2) Öffentliche Straßen im Sinne dieser Polizeiverordnung sind alleStraßen, Wege und Plätze, die dem öffentlichen Verkehr gewidmet sindoder auf denen ein tatsächlicher öffentlicher Verkehr stattfindet. Zuden öffentlichen Straßen gehören insbesondere die Fahrbahnen,Haltestellenbuchten, Haltestellen der öffentlichen Verkehrsbetriebeeinschließlich der Zu- und Abgänge zu den Stationen, Verteilerebenen,Treppen und Bahnsteige, Parkplätze, Gehwege, ausgewieseneFußgängerzonen, Fußgängerunterführungen sowie alle sonstigen Gehflächenin unterirdischen Verkehrsbauwerken, Böschungen, Stützmauern,Durchlässe, Brücken und Tunnels.(3) Öffentliche Anlagen im Sinne dieser Polizeiverordnung sind alle derÖffentlichkeit dienenden und zugänglichen Gärten, Anpflanzungen,Alleen, sonstige Grünanlagen und Kinderspielplätze.§ 2Straßen(1) Auf öffentlichen Straßen ist untersagt1. ...2. das Betteln,3. ...§ 3Anlagen(1) In den öffentlichen Anlagen ist untersagt1. ...2. das Betteln,3. ...§ 7InkrafttretenDiese Polizeiverordnung tritt am Tag nach der amtlichen Bekanntmachungin Kraft.Die Polizeiverordnung wurde im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 15.12.1994 bekannt gemacht.

Am 20.11.1996 erging gegen den Antragsteller auf Grund der in der Polizeiverordnung enthaltenen Bußgeldvorschrift ein Bußgeldbescheid wegen verbotenen Bettelns in Höhe von 100,-- DM. Hiergegen hat der Antragsteller Einspruch eingelegt. Mit Urteil vom 16.4.1997 hat das Amtsgericht Stuttgart (B 8 Owi 25 Js 70/97) den Antragsteller aus Rechtsgründen freigesprochen, da nach Ansicht des Amtsgerichts das Verbot des Bettelns in der Polizeiverordnung der Antragsgegnerin nicht durch das Polizeigesetz gedeckt ist. Über die dagegen von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsbeschwerde hat das Oberlandesgericht Stuttgart noch nicht entschieden.

Am 27.10.1997 hat der Kläger das Normenkontrollverfahren eingeleitet. Er beantragt sinngemäß,

§ 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Polizeiverordnung derOrtspolizeibehörde Stuttgart zur Aufrechterhaltung der öffentlichenSicherheit und Ordnung auf und an öffentlichen Straßen und inöffentlichen Anlagen in Stuttgart vom 24. November 1994 für nichtig zuerklären.Zur Begründung trägt er vor: Das in den angegriffenen Vorschriften verankerte Bettelverbot widerspreche dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und stehe dem sich aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht entgegen. Allenfalls eine in der Form des "aggressiven" Bettelns ausgeübte Belästigung von Passanten, die sich infolgedessen nicht mehr ungehindert auf öffentlichen Straßen und Plätzen fortbewegen könnten, sei als Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung einzuordnen. Dies treffe aber auf das sogenannte "stille" Betteln nicht zu. Bei diesem handele es sich um ein Verhalten, das ohne jede polizeirechtliche Relevanz bleibe. Weder begründe es eine Gefahr oder Störung für die öffentliche Sicherheit noch sei eine "bettelfreie Stadt" eine unerläßliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben. Da sich die angegriffenen Vorschriften allein gegen Bettler, nicht aber auch gegen Straßenkünstler richteten, liege ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. In Stuttgart werde auf der Grundlage der genannten Polizeiverordnung gegen Bettelnde vorgegangen, "Straßenkunst" dagegen toleriert. Es werde damit wesentlich Gleiches ungleich behandelt, denn er könne am Schutz der Kunstfreiheit partizipieren, indem er etwa Mundharmonika spiele, jedoch nicht zur Linderung seiner Not betteln.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die angegriffenen Bestimmungen der Polizeiverordnung seien durch die Ermächtigungsgrundlage des Polizeigesetzes (§ 10 Abs. 1, § 1 Abs. 1) gedeckt. Das verbotene Betteln stelle sich als eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, da die Bettelei - zumindest teilweise - nicht vom straßenrechtlichen Gemeingebrauch umfaßt werde, sondern als eine erlaubnispflichtige Sondernutzung und somit als Verstoß gegen das Straßengesetz zu bewerten sei. Beim Betteln handele es sich nicht mehr um einen vom Gemeingebrauch gedeckten individuellen Meinungs- und Informationsaustausch mit anderen Verkehrsteilnehmern, sondern um ein auf Gewinnerzielung hin angelegtes Verhalten, das der Anbahnung und Abwicklung von Geschäften diene. Daneben verstoße sowohl das "aggressive" als auch das "einfache" Betteln gegen die öffentliche Ordnung. Es sei eine Erfahrungstatsache, daß mit der Bettelei generell ein inneres Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung, insbesondere bei älteren und behinderten Menschen, gefördert werde. In Rede stehe eine typische Verhaltensqualität, die bereits in die Rechte anderer Fußgänger bzw. Passanten oder Spaziergänger eingreife, oder einem solchen Eingriff fließend doch so unmittelbar vorgelagert sei, daß sie als psychischer Zwang oder Pression empfunden werde. Derartige Verhaltensweisen bildeten oft auch den "Nährboden" für weitergehende Ordnungsstörungen und für Straftaten. Die Erscheinungsformen der Bettelei hätten sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Es sei nicht so, daß Betteln stets Armut bedeute. Gekennzeichnet sei diese Szene heute insbesondere in den Großstädten vielmehr ganz überwiegend von sozialen Randgruppen und von Einzelpersonen, die in ihrer Lebensart kaum Distanz und Achtung vor den Rechten anderer zu akzeptieren bereit seien. Die Antragsgegnerin habe die grundlegende Pflicht, den Rechtsfrieden zu gewährleisten. Das Verbot der Bettelei habe sich in der Landeshauptstadt bewährt. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten des Bettelns, bei denen von einer bloßen Lästigkeit ausgegangen werden könne, und solchen Betteleiformen, die die polizeiliche Gefahrenschwelle überschritten, sei nicht möglich. Vielmehr widerspreche das Betteln in jedweder Form den Wertvorstellungen der Allgemeinheit von einem geordneten menschlichen Zusammenleben und verstoße damit gegen die öffentliche Ordnung. Bettelei und Straßenkunst seien nicht miteinander vergleichbar, so daß ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nicht vorliege.

Dem Senat liegen die einschlägigen Akten der Antragsgegnerin einschließlich des Urteils des Amtsgerichts Stuttgart vom 16.4.1997 vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf diese Akten und die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Gründe

II.

Die Entscheidung ergeht gemäß § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO in der Fassung vom 1.1.1997 (BGBl. I 1996, S. 1626) durch Beschluß. Die Sach- und Rechtslage läßt sich anhand der Akten und der gewechselten Schriftsätze abschließend beurteilen. Der Senat hält daher eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich zu einer solchen Verfahrensweise zu äußern.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

1. Der Antrag ist gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft und auch sonst zulässig. Die Polizeiverordnung der Antragsgegnerin unterliegt als eine im Rang unter dem Landesgesetz stehende Vorschrift im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit der Normenkontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 4 AGVwGO). Als polizeirechtliche Verbotsvorschriften ermächtigen die Bestimmungen des § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Polizeiverordnung der Ortspolizeibehörde Stuttgart zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf und an öffentlichen Straßen und in öffentlichen Anlagen in Stuttgart vom 24. November 1994 (im folgenden: StrAnlPoVO) die zuständigen Polizeibehörden, gegenüber Störern Einzelmaßnahmen zu erlassen (sogenannte unselbständige Polizeiverfügungen), die auf dem Verwaltungsrechtsweg angefochten werden können (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.4.1983 - 1 S 1/83 -, NJW 1984, 507).

Der Antragsteller ist antragsbefugt. Er kann geltend machen, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), da er in der Vergangenheit mehrfach unter Hinweis auf das bestehende Bettelverbot des Platzes verwiesen wurde, einen Bußgeldbescheid erhalten hat und auch weiterhin beabsichtigt, in Stuttgart zu betteln, wobei er dann wiederum mit Maßnahmen auf Grund der StrAnlPoVO zu rechnen hat.

Der Antragsteller hat die Antragsfrist (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), die am 1.1.1997 zu laufen begann (Art. 10 Abs. 4 6. VwGOÄndG), eingehalten.

2. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet. Die Polizeiverordnung der Antragsgegnerin, gegen die formelle Bedenken nicht bestehen, ist in ihren Regelungen des § 2 Abs. 1 Nr. 2 und des § 3 Abs. 1 Nr. 2 nichtig. Die Regelungen, die dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot genügen, sind nicht durch die polizeiliche Generalermächtigung in § 10 Abs. 1, § 1 Abs. 1 PolG gedeckt.

Dem aus dem Rechtsstaatsprinzip und den aus ihm hergeleiteten Geboten der Rechtsklarheit und der Justiziabilität folgenden Erfordernis, daß der Normadressat die Rechtslage, das heißt den Inhalt und die Grenzen des Verbots erkennen und sein Verhalten danach einrichten kann (Beschl. des Senats v. 29.4.1983, a.a.O; Wolf/Stephan, PolG Bad-Württ., 4. Aufl., 1995, § 10 RdNr. 18; Belz/Mußmann, PolG Bad.-Württ., 5. Aufl. 1996, § RdNr. 16), genügt die "das Betteln" verbietende Polizeiverordnung. Betteln im Wortsinne und damit auch im Sinne der Polizeiverordnung der Antragsgegnerin bedeutet die an einen beliebigen Fremden gerichtete Bitte um eine Zuwendung. Es unterscheidet sich somit insbesondere von der mit Gewinnerzielungsabsicht dargebotenen Straßenkunst, da der Straßenkünstler kein geldwertes Geschenk zur Verminderung einer behaupteten Notlage, sondern die Vergütung seiner Leistung erstrebt.

Als Ermächtigungsgrundlage der angegriffenen Regelung ist ausschließlich die in ihrer Präambel als Grundlage genannte gesetzliche Bestimmung des § 10 Abs. 1 (i.V.m. § 1 Abs. 1) PolG maßgebend. Darauf, ob eine inhaltsgleiche Regelung auf eine andere Ermächtigungsgrundlage gestützt werden könnte, kommt es nicht an. Denn eine Rechtsverordnung muß das Gesetz, also die Rechtsgrundlage angeben, die zu ihrem Erlaß ermächtigt (§ 61 Abs. 1 Satz 3 LV). Diese Formvorschrift hat dergestalt zwingenden Charakter, daß die Verordnung in ihrer Gültigkeit - auch - davon abhängig ist, ob die in ihr selbst bezeichneten Rechtsgrundlagen hinreichende Ermächtigungsgrundlagen für ihren Erlaß sind (VGH Bad.-Württ., Normenkontrollbeschl. v. 24.3.1997 - 1 S 892/95 -, ESVGH 47, 184 = DVBl. 1997, 856).

Die in der Präambel der angegriffenen Verordnung genannte polizeigesetzliche Ermächtigungsgrundlage wird nicht durch straßenrechtliche Vorschriften verdrängt. Zwar können Gemeinden durch Satzung bestimmen, daß bestimmte Sondernutzungen an Gemeindestraßen keiner Erlaubnis nach dem Straßengesetz bedürfen; sie können die Sondernutzungen an Gemeindestraßen durch Satzung abweichend von bestimmten Vorschriften des Straßengesetzes regeln (§ 16 Abs. 7 Satz 1 und 2 StrG; vgl. zum generellen Verbot von Sondernutzungen Grupp, Polizeigefahr als Sondernutzung, SKZ 1995, 128). Das von der Antragsgegnerin untersagte "Betteln" ist jedoch, jedenfalls soweit es das vom Antragsteller praktizierte "stille" Betteln umfaßt, Gemeingebrauch und keine straßenrechtliche Sondernutzung. Es unterliegt damit von vornherein nicht der gemeindlichen Satzungskompetenz nach § 16 Abs. 7 Satz 2 StrG (vgl. Lorenz, Straßengesetz Bad.-Württ., 1992, § 16 RdNr. 87; Kodal/Krämer, Straßenrecht, 5. Aufl. 1995, S. 670), so daß der Senat offen lassen kann, ob und inwieweit diese Regelung des Straßengesetzes im Sachbereich der erlaubnisfähigen Sondernutzung eine Sperrwirkung gegenüber auf polizeigesetzliche Regelungen gestützten Verordnungen entfaltet (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 26.6.1986 - 1 S 2448/85 -, ESVGH 36, 293; Lorenz, a.a.O., § 16 RdNr. 69).

Der Gemeingebrauch an einer Straße, einem öffentlichen Weg oder öffentlichen Platz ist von der Sondernutzung abzugrenzen. Gemeingebrauch ist der Gebrauch der öffentlichen Straßen, der jedermann im Rahmen der Widmung und der Straßenverkehrsvorschriften innerhalb der verkehrsüblichen Grenzen gestattet ist, soweit er den Gemeingebrauch anderer nicht unzumutbar beeinträchtigt (§ 13 Abs. 1 StrG). Der Umfang des Gemeingebrauchs bestimmt sich in erster Linie nach dem der Straße durch § 2 Abs. 1 StrG generell zuerkannten Widmungszweck. Der vorliegende Fall nötigt den Senat nicht, im einzelnen abstrakt zu klären, welche Handlungen noch dem Gemeingebrauch zuzuordnen sind oder bereits eine Sondernutzung darstellen (vgl. zur Abgrenzung insbesondere: VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.7.1996 - 5 S 472/96 -, VBlBW 1997, 64; Kodal/Krämer, a.a.O. S. 449ff. und 551f.; Kohl, Zulässigkeit ordnungsrechtlicher Maßnahmen gegen Obdachlose in den Städten, NVwZ 1991, 625; Lorenz, a.a.O., § 13 RdNr. 23; Holzkämper, Die Unterbindung aggressiven Bettelns als Rechtsproblem, NVwZ 1994 S. 147). Denn es läßt sich feststellen, daß das untersagte Betteln, jedenfalls soweit es um seine "stille" Form geht, dem straßenrechtlichen Gemeingebrauch unterfällt und nicht den Gemeingebrauch anderer unzumutbar beeinträchtigt (vgl. Holzkämper, a.a.O.; Stellungnahme des Gemeindetags Baden-Württemberg, BWGZ 1989, 565; Fahl, Zur Fragwürdigkeit bußgeldbewerter Einschränkungen der Stadtstreicherei durch Sondernutzungssatzungen, DÖV 1996, 956; Götz, Die Entwicklung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (1990 bis 1993), NVwZ 1994, 656). Wie andere Verkehrsteilnehmer auch nützen die Bettler die öffentlichen Flächen zur Fortbewegung oder zum Verweilen.

§ 10 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 PolG bildet keine ausreichende Grundlage für die angegriffenen Regelungen, weil das in § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 3 Abs. 1 Nr. 2 StrAnlPoVO verbotene Betteln als solches weder eine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (a), noch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (b) darstellt.

a) Das polizeiliche Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfaßt nach allgemeiner Ansicht die Unversehrtheit von Leben, Ehre, Freiheit und Vermögen der Bürger, weiter die Unverletzlichkeit des Staates, seiner Einrichtungen und Veranstaltungen sowie der objektiven Rechtsordnung allgemein (Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl., 1996, RdNr. 75ff.). Eine Störung der öffentlichen Sicherheit im Sinne von § 10 Abs. 1, § 1 Abs. 1 PolG liegt vor, wenn ein bestimmtes Verhalten regelmäßig und typischerweise zu einer Verletzung eines der genannten Rechtsgüter führt. Dies trifft bei dem durch die Polizeiverordnung der Antragsgegnerin generell verbotenen Betteln jedenfalls nicht in allen seinen Erscheinungsformen zu.

Das Betteln verstößt nicht gegen strafrechtliche Bestimmungen. Es ist als solches nicht mehr strafbar. § 361 RStGB, der es strafrechtlich bewehrte, wurde im Zuge der Strafrechtsreform 1974 gestrichen (Art. 326 III EGStGB, BGBl. I S. 469).

Es werden durch das Betteln als solches auch nicht regelmäßig und typischerweise strafrechtliche Vorschriften verletzt. In Betracht kommen könnte ein Verstoß gegen § 263 StGB in Form des sogenannten Bettelbetrugs. Doch ist, selbst wenn im Einzelfall eine tatsächliche Bedürftigkeit nur vorgespiegelt und damit eine Täuschungshandlung im Sinne der genannten Vorschrift unternommen wird, nicht regelmäßig und typischerweise von einer solchen Vorspiegelung auszugehen. Die Ansicht der Antragsgegnerin, eine wirtschaftliche Not könne in der Regel nicht der Anlaß zum Betteln sein, da die Höhe der Leistung nach dem Bundessozialhilfegesetz eine Bedürftigkeit ausschließe, verkennt, daß eine aktuelle Notlage auch deshalb gegeben sein kann, weil Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht in Anspruch genommen werden oder zur Existenzsicherung nicht ausreichen, weil etwa dem Empfänger die Fähigkeit fehlt, mit der erhaltenen Geldzuwendung zweckentsprechend umzugehen. Auch von einer Nötigung (§ 240 StGB), also einer Gewaltanwendung oder einem Drohen mit einem empfindlichen Übel, wodurch zu einer Handlung veranlaßt werden soll, kann jedenfalls beim (auch) untersagten "stillen" Betteln regelmäßig nicht ausgegangen werden. Ob eine aggressive, insbesondere mit Körperkontakt oder einem Verstellen des Weges verbundene Vorgehensweise des oder der Bettler unter § 240 StGB subsumiert werden und damit eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit begründet werden kann, ist hier nicht zu entscheiden, da die Verbotstatbestände das Betteln generell und damit auch in seiner "stillen" Erscheinungsform erfassen.

Auch verstößt das in § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 3 Abs. 1 Nr. 2 StrAnlPoVO untersagte Betteln nicht regelmäßig und typischerweise gegen die ordnungswidrigkeitsrechtliche Norm des § 118 OWiG. Danach handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Die Ordnungswidrigkeitsvorschrift erfaßt nur solche Handlungen, die den allgemein anerkannten Regeln von Sitte, Anstand und Ordnung widersprechen (Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, § 118 OwiG, Anm. 5). Erforderlich ist darüber hinaus insbesondere die abstrakte Eignung der zu ahndenden Handlung, die Allgemeinheit unmittelbar zu belästigen, selbst wenn die Handlung sich konkret gegen einzelne Personen richtet (BGHSt 13, 241; Rebmann u.a., a.a.O., Anm. 6). Die Handlung muß im deutlichen Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung stehen und als eine Mißachtung der durch die Gemeinschaftsordnung geschützten Interessen erscheinen (Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, 11. Aufl., 1995, 195, § 118 RdNr. 4).

Daß das Betteln als solches regelmäßig gegen die weithin anerkannten Regeln von Sitte, Anstand und Ordnung verstößt, kann nicht festgestellt werden. Zumindest das "stille" Betteln ist dazu nicht geeignet. Das seelische Unbehagen (schlechte Gewissen), das der regelmäßig still auf dem Bürgersteig sitzende Bettler einem nicht unerheblichen Teil der Passanten bereiten mag, erfüllt nicht den Tatbestand des § 118 OWiG.

Schließlich stört das "stille" Betteln als solches nicht regelmäßig und typischerweise (abstrakt) die öffentliche Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 1 PolG (ebenso: Mußmann, Allgemeines Polizeirecht in Baden-Württemberg, 4. Aufl., 1994, RdNr. 158, Belz/Mußmann, a.a.O., § 1 RdNr. 27; Stellungnahme des Gemeindetags Bad.-Württ., a.a.O.). Die öffentliche Ordnung umfaßt die Gesamtheit der sozialen Normen über das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach - durch die grundrechtlichen Wertmaßstäbe geprägter - Anschauung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung unerläßliche Voraussetzung eines gedeihlichen staatsbürgerlichen und menschlichen Zusammenlebens ist (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.4.1983, a.a.O.; Götz, a.a.O., RdNr. 93; Belz/Mußmann, a.a.O., § 1 RdNr. 29). Voraussetzung für das polizeiliche Einschreiten ist ein sozial abträgliches Verhalten, welches das menschliche Miteinander nicht unerheblich beeinträchtigt und Gegenmaßnahmen geradezu herausfordert.

Danach kann von einer Störung der öffentlichen Ordnung jedenfalls durch "stilles" Betteln nicht ausgegangen werden. Die Anwesenheit auf dem Bürgersteig sitzender Menschen, die in Not geraten sind und an das Mitleid und an die Hilfsbereitschaft von Passanten appellieren, muß von der Gemeinschaft jedenfalls in Zonen des öffentlichen Straßenverkehrs als eine Erscheinungsform des Zusammenlebens hingenommen werden und kann folglich nicht - generell - als ein sozial abträglicher und damit polizeiwidriger Zustand gewertet werden. Grundsätzlich kommt dem allgemeinen Ordnungsrecht nicht die Befugnis zu, die "äußere" Ordnung in einer der Gemeinde sinnvoll erscheinenden Weise zu gestalten (vgl. Götz, Die Entwicklung des allgemeinen Ordnungs- und Polizeirechts, a.a.O.).

Ob das auf Belästigung anderer angelegte "aggressive" Betteln eine Störung der öffentlichen Ordnung darstellt und Gegenmaßnahmen zwingend erforderlich macht, um ein gedeihliches Zusammenleben zu gewährleisten (vgl. Deger, Platzverweise und Betretungsverbote gegen Mitglieder der Drogenszene und anderer offener Szenen, VBlBW 1996, 93; Holzkämper, a.a.O.), braucht hier nicht entschieden zu werden, da das generelle Verbot in den umstrittenen Vorschriften über diese Erscheinungsform des Bettelns hinausgeht.

b) Das in § 2 Abs. 1 Nr. 2 und § 3 Abs. 1 Nr. 2 StrAnlPoVO untersagte Verhalten stellt nach Auffassung des Senats auch keine ein generelles repressives Verbot rechtfertigende abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung dar.

Nach der Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 16.8.1978 - 1 S 2576/77 -, ESVGH 28, 241 und Beschl. v. 29.4.1983, a.a.O.) wäre hierfür Voraussetzung, daß die Bettelei typischerweise und regelmäßig zu konkreten Gefahren für die öffentliche Sicherheit führt, und ihre Untersagung den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entspricht. Unter einer konkreten polizeilichen Gefahr wird allgemein eine Sachlage verstanden, die bei ungehindertem weiteren Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden, d.h. zu einer nicht unerheblichen Minderung eines tatsächlich vorhandenen normalen Bestands an Lebensgütern durch von außen kommende Einflüsse führt; der insoweit erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad ist dabei sowohl vom Wert des zu schützenden Rechtsguts als auch vom Rang desjenigen Rechtsguts, in das eingegriffen werden soll, abhängig. Für den abstrakte Gefahrenlagen regelnden Verordnungsgeber folgt daraus, daß die ursächliche Verknüpfung zwischen dem verbotenen Tun und dem befürchteten Schaden um so wahrscheinlicher sein muß, je geringer dieser Schaden und je bedeutender das eingeschränkte Rechtsgut ist (vgl. zum ganzen, VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 29.4.1983, a.a.O.). Aus den obigen Ausführungen, wonach keine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch das "stille" Betteln vorliegt, ergibt sich auch, daß keine konkreten Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu befürchten sind. Es ist insbesondere nicht erkennbar, daß zwischen dem "stillen" Betteln und bestimmten Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten ein enger Wirkungs- und Verantwortungszusammenhang besteht.

Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, das Bettelverbot sei deshalb gerechtfertigt, weil zahlreiche Formen der Bettelei gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung verstießen und eine Abgrenzung der einzelnen Betteleiformen nicht möglich und unpraktikabel sei, verkennt sie, daß durch eine Polizeiverordnung nur Handlungsweisen untersagt werden dürfen, die hinreichend klar und bestimmt schon abstrakt als eine Störung oder Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung angesehen werden können.

Der Senat sieht sich veranlaßt, klarstellend darauf hinzuweisen, daß die Möglichkeit, auf Grund der polizeilichen Generalklausel (§ 1 und § 3 PolG) im Einzelfall gegen einen Bettler einzuschreiten, der durch sein konkretes Verhalten die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stört, durch die Entscheidung über die Ungültigkeit des abstrakt normierten Bettelverbots nicht ausgeschlossen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.