VG Köln, Urteil vom 16.09.2010 - 20 K 6216/09
Fundstelle
openJur 2011, 73337
  • Rkr:
Tenor

Es wird festgestellt, dass die Freiheitsentziehung der Klägerin am 20.09.2008 sowie ihre Verbringung nach Brühl und ihr dortiges Festhalten bis in die Morgenstunden des 21.09.2008 rechtswidrig waren. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des insgesamt vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen.

Vom 19.09.2008 bis zum 21.09.2008 fand in Köln der von der Bürgerbewegung "pro Köln" organisierte sogenannte erste Anti-Islamisierungskongress statt. Im Umfeld dieser Veranstaltung gab es vielfältige Protest- und Gegenveranstaltungen.

Die Klägerin befand sich am 20.09.2008 nach ihren Angaben auf dem Rückweg von einer (Gegen)Demonstration vor dem Hotel Maritim. Dabei nahm sie den Weg durch die Rheingasse. Dort wurde die Klägerin mit ca. 250 anderen Personen von der Polizei eingekesselt. Die Gruppe wurde von der Polizei als Versammlung qualifiziert, welche nach dem Eintreffen eines Lautsprecherkraftwagens aufgelöst wurde. Gegen 20.00 Uhr wurde begonnen, einen Teil der eingeschlossenen Personen, zu dem auch die Klägerin gehörte, zur Gefangenensammelstelle (Gesa) nach Brühl zu bringen. Aufgrund einer Entscheidung des Polizeiführers wurden ab 20.29 Uhr die Personen aus der Einschließung nur noch einer Identitätsfeststellung unterzogen und dann entlassen.

Bereits am Vormittag des 20.09.2008 war es im Umfeld der Protestveranstaltungen zu vielfachen Straftaten durch Gegendemonstranten gekommen. Nach dem Bericht des PD Tiemann vom 19.11.2008 (Bl. 13 ff VV) habe die überwiegende Mehrheit der Gruppe in der Rheingasse gegen 14.45 Uhr ein erheblich gewalttätiges Verhalten gezeigt (Bewurf der Polizeibeamten mit Pyrotechnik, Anrennen gegen eine Polizeikette, versuchte Gefangenenbefreiung, Vermummung). Lagemeldungen hätten erkennen lassen, dass es sich dabei um die Fortsetzung des schon an den Sperrstellen Hotel Maritim/Leystapel und im Kreuzungsbereich Filzengraben/An der Malzmühle durch Angehörige dieser Gruppe gezeigten Verhaltens gehandelt habe. Namentlich sei dort ein Anrennen gegen Polizeiabsperrungen, Vermummung und Bewurf der Polizeibeamten mit Pyrotechnik, Steinen und weiteren Gegenständen, das Mitführen und der Einsatz von Schlagwerkzeugen zu melden. Zur Verfolgung bereits begangener und um die prognostizierte Begehung von unmittelbar bevorstehenden weiteren Straftaten zu verhindern, seien die Eingeschlossenen nach § 163 b StPO und § 35 PolG NRW in die Gefangenensammelstelle gebracht worden.

Ausweislich des Aufnahmezettels der Gesa wurde die Freiheitsentziehung der Klägerin als Ingewahrsamnahme und nicht als Festnahme qualifiziert. Als Aufnahmezeit ist 01.39 Uhr angegeben, als Entlassungszeit 03.08 Uhr. Die Kennfelder für Vernehmung und Vorführung sind jeweils mit einem "Nein" gekennzeichnet.

Das unter dem Aktenzeichen 121 Js 805/08 geführte Sammelstrafverfahren gegen die Klägerin und 291 weitere Personen wegen Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung, Verstößen gegen das Sprengstoff- und gegen das Versammlungsgesetz sowie wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte wurde von der Staatsanwaltschaft Köln am 15.01.2010 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Soweit einzelnen Personen Straftaten gegen das Versammlungsgesetz durch Vermummung oder Bewaffnung zur Last gelegt wurden, wurden deren Verfahren jeweils gesondert geführt.

Mit Schreiben vom 03.11.2008 bat die Klägerin um Mitteilung der Rechtsgrundlagen für die Inhaftierung, die Personalienaufnahme sowie die Lichtbildanfertigung.

In einer im Verwaltungsvorgang enthaltenen sog. "Stellungnahme zu standardisierten Eingaben" vom 10.12.2008 ist die Rede davon, dass bei der Klägerin die Freiheitsentziehung zum Zwecke der Identitätsfeststellung nach § 163 b StPO erfolgt sei. Die andauernde Freiheitsentziehung nach Abschluss der strafprozessualen Maßnahmen beruhe auf einer fortdauernden Störerprognose nach § 35 PolG NRW.

Mit Schreiben vom 08.06.2009 an die Klägerin erläuterte der Beklagte, bei den Vorfällen, welche zur Einschließung geführt hätten, seien sowohl Aspekte der Gefahrenabwehr als auch der Strafverfolgung zu berücksichtigen gewesen. Die Freiheitsentziehung sei zum Zwecke der Identitätsfeststellung nach § 163 b StPO erfolgt. Das Lichtbild habe zum Ausschluss von Verwechslungen mit anderen in Gewahrsam genommenen Personen gedient; es sei nach der Entlassung als Datei gelöscht worden.

Die Klägerin hat am 07.09.2009 Klage erhoben, mit welcher sie die Feststellung begehrt, dass die gegen sie verhängten polizeilichen Maßnahmen rechtswidrig waren.

Sie legt dar, sie habe sich auf dem Rückweg von einer Demonstration vor dem Hotel Maritim befunden. Den dortigen Demonstrationsort habe sie verlassen, nachdem bekannt geworden sei, dass die Veranstaltung von "pro Köln" beendet worden sei. Zugleich habe es Warnungen vor möglicherweise gewalttätigen "pro Köln" - Anhängern gegeben. Auch der Rückweg vom Versammlungsort sei durch das Demonstrationsgrundrecht geschützt.

Die Klägerin macht geltend, die Einkesselung der Personengruppe in der Rheingasse sei ohne für sie erkennbaren Grund erfolgt. Insbesondere habe sie keinen unfriedlichen Charakter der Menschenmenge bemerkt. Soweit die Polizei die Zusammenkunft in der Rheingasse als Versammlung qualifiziert und diese später aufgelöst habe, sei darauf hinzuweisen, dass man ihr keine Möglichkeit zum Verlassen des Versammlungsortes gegeben habe.

Nach stundenlanger Einkesselung sei sie gegen 20.00 Uhr zusammen mit weiteren Demonstranten in einen Polizeibus gebracht worden, wobei vor der Abfahrt ihre Personalien festgestellt worden seien. In diesem Zusammenhang sei ihr auf Nachfrage mitgeteilt worden, sie werde in Gewahrsam genommen, weil sie Straftaten begangen habe.

In Brühl habe sie erst gegen 01.45 Uhr nachts den Bus verlassen dürfen. Nachdem sie erkennungsdienstlich behandelt worden sei, habe man sie in den Käfig mit der Nr. 1 gebracht, von wo aus sie um 03.10 Uhr entlassen worden sei.

Eine richterliche Überprüfung der Ingewahrsamnahme sei jedenfalls ab 21.30 Uhr in Brühl nicht mehr möglich gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe die diensthabende Richterin des AG Köln die Gefangenensammelstelle verlassen, nachdem sie zuvor vergeblich über Stunden darauf gewartet hatte, dass ihr Personen zur Überprüfung der Ingewahrsamnahme vorgeführt würden.

Die Klägerin ist der Auffassung, der Schwerpunkt des polizeilichen Handelns liege hier auf präventivem Gebiet, da man ihr keinen konkreten Verdachtsgrund mitgeteilt und sie auch nicht verantwortlich vernommen habe. Ferner sei die Maßnahme bei der Aufnahme als Ingewahrsamnahme bezeichnet worden. Die Klägerin vertritt insoweit die Ansicht, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW für eine Ingewahrsamnahme nicht vorgelegen hätten. Die Fortsetzung oder Begehung einer Straftat sei nicht zu befürchten gewesen. Sie habe sich vielmehr zusammen mit ihrer Schwester ruhig auf die Straße gesetzt und dort abgewartet, als die Polizei durchgegeben habe, es gehe aus organisatorischen Gründen nicht weiter. Als Störerin sei sie nicht aufgetreten.

Die Freiheitsentziehung könne entgegen der im Schreiben vom 08.06.2009 geäußerten Auffassung des Beklagten auch nicht auf § 163 b StPO gestützt werden.

Insoweit sei bereits die Belehrungspflicht des § 163 b Abs. 1 2. Hs. i.V.m. § 163 a Abs. 4 StPO nicht eingehalten. Überdies seien die Voraussetzungen dieser Norm nicht erfüllt: eine Freiheitsentziehung zur Feststellung der Identität sei nur dann gerechtfertigt, wenn die Identität sonst nicht oder nur erschwert festgestellt werden könne. Hier habe der Beklagte nach der Einkesselung um 14.50 Uhr keinerlei Bemühungen entfaltet, um Identitätsfeststellungen vorzunehmen. Im Übrigen seien ihre Personalien vor der Fahrt nach Brühl aufgenommen worden. Die Verbringung nach Brühl sowie ihr Festhalten dort seien also unter keinen Umständen gerechtfertigt gewesen.

Die Klägerin macht geltend, in Bezug auf den Vorwurf des Landfriedensbruchs sei zu keinem Zeitpunkt ein individualisierbarer konkreter Verdacht gegen sie erhoben worden. Ausweislich einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft hätten lediglich einzelne Gewalttäter strafbar agiert. Damit das Demonstrationsgrundrecht nicht unterlaufen werde, dürften keine zu geringen Anforderungen hinsichtlich der Bejahung einer Teilnahme an einem Gewaltakt gestellt werden, weil ansonsten auch passiv bleibende Demonstrationsteilnehmer Gefahr liefen, strafrechtlich verfolgt zu werden.

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, dass ihre Freiheitsentziehung am 20.09.2008 sowie ihre Verbringung nach Brühl und ihr dortiges Festhalten bis in die Morgenstunden des 21.09.2008 rechtswidrig waren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält die Klage für unbegründet. Zur Erläuterung legt er dar, die Polizei habe sich mit der Situation konfrontiert gesehen, dass an allen Sicherheitssperren, die zum Schutz der Versammlung des rechten politischen Spektrums eingerichtet worden seien, sich große Menschenansammlungen gebildet hätten, die teilweise in 20er Reihen vor den Sperren gestanden und immer wieder dazu aufgerufen hätten, keine "Rechten" auf das Kundgebungsgelände zu lassen. Daneben seien Personen, die "bürgerlich normal" gekleidet gewesen seien und sich so dem "Verdacht" ausgesetzt hätten, an dem Anti-Islamisierungskongress teilzunehmen, in Form von Sprechchören aufgefordert worden "abzuhauen". Die Personen seien gezielt körperlich angegangen, teilweise sogar geschlagen und getreten und somit faktisch aus dem Bereich um das Kundgebungsgelände vertrieben worden. Maßnahmen der Polizei zum Schutz der Betroffenen seien durch das Blockadeverhalten vielfach unmöglich gemacht worden. Mit dieser Intensität und der Aggressivität des Störerverhaltens habe im Vorfeld nicht gerechnet werden können, weshalb die Gesa 200 nicht ausreichend groß ausgelegt gewesen sei.

Bezüglich der Einkesselung legt der Beklagte dar, die Freiheitsentziehung sei zum Zwecke der Identitätsfeststellung nach § 163 b StPO erfolgt. Sie habe um 15.15 Uhr mit der Einschließung der Personengruppe in der Rheingasse durch die Bereitschaftspolizeiabteilung Köln begonnen. Die Klägerin sei der Gesa Brühl zugeführt worden, wo man im Rahmen der Aufnahme um 01.37 Uhr ein Lichtbild von ihr auf der Grundlage des § 8 PolG NRW gefertigt habe.

In der Binnenorganisation der Gesa hätten ab 19.00 Uhr alle Personalkapazitäten auf die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen sowie die vorrangige Abwicklung der Freiheitsentziehungen mit dem Ziel der Übergabe an die Sorgeberechtigten oder das Jugendamt konzentriert werden müssen. Nach 21.45 Uhr sei eine deutliche Entspannung der Situation eingetreten, so dass generelle Vorkehrungen zur Entlassung aller festgehaltenen Personen getroffen worden seien. Gleichwohl hätten zu diesem Zeitpunkt auch noch parallel Identitätsfeststellungen aus strafprozessualen Gründen nach § 163 b StPO vorgenommen werden müssen. Ein darüber hinaus gehendes Festhalten aus polizeirechtlichen Gründen sei nicht erforderlich gewesen, da eine entsprechende Gefahrenprognose nicht bestanden habe.

Die Tatsache, dass in der Gesa 200 letztlich mehr als 800 Personen eingeliefert worden seien, und die sich hieraus ergebenden Folgen seien für die Klägerin zwar unangenehm gewesen. Dies führe jedoch nicht zur Rechtswidrigkeit der Maßnahmen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen. Ferner wird auf die Akten des Strafverfahrens StA Köln 121 Js 805/08 verwiesen.

Gründe

Die Klage ist zulässig. Der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO ist bezüglich sämtlicher Streitgegenstände eröffnet, weil die Klägerin geltend macht, der Beklagte habe die vorgenommenen Maßnahmen teilweise zwar auf die Strafprozessordnung gestützt, faktisch habe es sich jedoch um eine polizeirechtliche Ingewahrsamnahme gehandelt.

Nach der Rechtsprechung des OVG NRW,

vgl. Beschluss vom 07.07.2006 - 5 E 584/06 -,

kommt es bei einem "doppelfunktionalen" Tätigwerden der Polizei nicht auf das Schwergewicht der streitigen polizeilichen Tätigkeit an. Vielmehr kommt eine Verweisung an das Amtsgericht allein dann in Betracht, wenn der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht schlechthin, d.h. mit allen für den Klageanspruch in Betracht kommenden Klagegründen unzulässig ist. Dies ist auf Grund des Klageantrags und des zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalts zu prüfen. Ausgehend hiervon hat das Verwaltungsgericht den von der Klägerin als Ingewahrsamnahme angesehenen Sachverhalt unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu überprüfen.

Des Weiteren besteht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse:

Dieses ergibt sich bezüglich der streitgegenständlichen Freiheitsentziehung am 20.09.2008 bereits daraus, dass der Eingriff in die Freiheit einer Person einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt, der regelmäßig dem Richter vorbehalten ist (Art. 104 Abs. 2 GG). Im Übrigen folgt das Fortsetzungsfeststellungsinteresse aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes, da nach dem typischen Verfahrensablauf sich die belastende Wirkung auf eine Zeitdauer beschränkt, in der Rechtsschutz in der Instanz regelmäßig nicht zu erlangen sein wird,

vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.02.1999 - 2 BvR 804/97 -, NJW 99, S. 3773.

Die Klage ist in vollem Umfang begründet.

Dies gilt zunächst, soweit die Klägerin die Feststellung begehrt, dass die Freiheitsentziehung durch Einkesselung am 20.09.2008 rechtswidrig war.

Als Rechtsgrundlage für diese Einschließung kommt sowohl § 35 Abs. 1 PolG NRW als auch § 163 b StPO in Frage. Zwar ist die Maßnahme der Klägerin gegenüber als Ingewahrsamnahme bezeichnet worden, auch der Einlieferungsbogen der Gesa lautet auf Ingewahrsamnahme und nicht auf Festnahme. Andererseits ergibt sich aus dem Bericht des Polizeibeamten Tiemann vom 19.11.2008, dass der Zweck der Einkesselung neben der Verfolgung begangener Straftaten auch in der Verhinderung von weiteren Taten gelegen habe. Entsprechend lautet auch eine Auskunft an die Klägerin vom 08.06.2009.

§ 35 Abs. 1 PolG trägt die vorgenommene Freiheitsentziehung in Bezug auf die Klägerin nicht. Dabei kommt es nicht darauf an, dass nach den mitgeteilten zeitlichen Abläufen die Einkesselung gegen 14.45 Uhr begann, die von der Polizei als Versammlung angesehene Zusammenkunft aber erst nach dem Eintreffen eines Lautsprecherkraftwagens um 16.41 Uhr aufgelöst wurde. Bis zu ihrer Auflösung ist eine Versammlung grundsätzlich "polizeifest", d.h. polizeiliche Maßnahmen auf der Grundlage des Polizeigesetzes dürfen nicht verhängt werden,

vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.01.1987 - 1 B 219/86 -, NVwZ 1988 250; OVG NRW, Beschluss vom 02.03.2001 - 5 B 273/01 -, NVwZ 2001, 1315 f..

Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob angesichts der besonderen Erschwernisse, mit denen der Beklagte am maßgeblichen Tag konfrontiert war, die Einkesselung sowie die Auflösung als noch hinreichend zeitlich zusammenhängend angesehen werden können, denn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35 PolG NRW liegen nicht vor.

Nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern, wobei hier allein die Variante der Begehung oder Fortsetzung einer Straftat relevant sein dürfte.

In Bezug auf die Klägerin fehlt es an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass sie eine Straftat begangen hat oder unmittelbar vor deren Begehung stand. Soweit der Vorwurf des Landfriedensbruchs im Raum steht, gilt nach der maßgeblichen Rechtsprechung der Strafgerichte in Bezug auf die Teilnehmer einer Versammlung, aus der heraus Unfriedlichkeiten begangen werden, Folgendes:

Für eine Beteiligung an einem Landfriedensbruch nach § 125 Abs. 1 StGB genügt es nicht, bloßer Teil der "Menschenmenge" gewesen zu sein, aus der heraus die Gewalttätigkeiten begangen wurden. Vielmehr gelten die allgemeinen Teilnahmegrundsätze der §§ 25 ff StGB,

vgl. BGH, Beschluss vom 09.09.2008, - 4 StR 368/08, Juris.

Danach stellt das bloß inaktive Dabeisein oder Mitmarschieren weder eine psychische Beihilfe noch ein bestimmte Gewalttätigkeiten auf andere Weise unterstützendes Verhalten dar. Dies gilt auch dann, wenn der einzelne Demonstrant, wie es die Regel sein wird, mit der Gewalttätigkeit einzelner oder ganzer Gruppen rechnet und weiß, dass er allein schon mit seiner Anwesenheit den Gewalttätern mindestens durch Gewährung von Anonymität Förderung und Schutz geben kann. Erforderlich für eine strafrechtlich relevante Teilnahmehandlung ist vielmehr die Feststellung, dass die Gewährung von Anonymität und die Äußerung von Sympathie darauf ausgerichtet und geeignet sind, Gewalttäter in ihren Entschlüssen und Taten zu fördern und zu bestärken, etwa durch Anfeuerung oder ostentatives Zugesellen zu einer Gruppe, aus der heraus Gewalt geübt wird,

vgl. BGH, Urteil vom 24.01.1984 - VI ZR 37/82 -, BGHZ 89, 383 ff.

Im vorliegenden Fall sind nach den Feststellungen des Beklagten aus der Menge heraus Straftaten verübt worden (Bewurf von Polizeibeamten mit Pyrotechnik, Anrennen gegen eine Polizeikette, versuchte Gefangenenbefreiung, Vermummung), wobei Tatverdächtige vereinzelt zugeordnet werden konnten. In diesen Fällen wurden gesonderte Strafverfahren geführt.

In Bezug auf die Klägerin liegen allerdings keine konkreten Tatsachen vor, dass diese sich einer Teilnahmehandlung an einem Landfriedensbruch schuldig gemacht hat. Auch die vom Beklagten vorgelegte CD mit Beweissicherungsmaterial von den Ereignissen in der Rheingasse spiegelt nicht die in den Berichten vorgenommene Einschätzung, wonach die überwiegende Mehrheit der Gruppe in der Rheingasse ab 14.45 Uhr ein erheblich gewalttätiges Verhalten gezeigt habe. Hinzu kommt, dass die Polizei die Menschen in der Rheingasse offenbar als Gruppe angesehen (hierfür spricht im Übrigen die Qualifizierung als Versammlung) und dieser Gruppe die Begehung von am Vormittag an verschiedenen Orten begangenen Delikten zugerechnet hat. Eine derartige Zurechnung von am Vormittag an anderen Orten erfolgten Gewalttätigkeiten erscheint aber nicht gerechtfertigt, zumal die Rheingasse auch von Personen wie der Klägerin genutzt wurde, um stadtauswärts zu gelangen.

Ebenso fehlt es an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass die Begehung einer Straftat durch die Klägerin bevorstand. § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW trägt somit die Maßnahme - soweit eine Ingewahrsamnahme intendiert war - nicht.

Die Freiheitsentziehung war aber auch gemessen am Maßstab des § 163 b StPO - soweit es um die Ahndung begangener Straftaten geht - nicht gerechtfertigt.

Ist jemand einer Straftat verdächtig, so können die Staatsanwaltschaft oder die Beamten des Polizeidienstes nach § 163 b StPO die zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen treffen. Ferner darf der Verdächtige festgehalten werden, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann.

Die Einleitung strafprozessualer Maßnahmen wird durch das Versammlungsgrundrecht der Klägerin nicht gehindert. Die Versammlungsfreiheit schützt grundsätzlich nicht vor der Einleitung berechtigter Strafverfolgungsmaßnahmen, denn die Teilnahme an einer Versammlung ist nur geschützt, wenn sie friedlich und ohne Waffen erfolgt,

vgl. OVG NRW, Beschluss vom 03.04.2007 - 5 A 523/07 -; OLG München, Urteil vom 20.06.1996 - 1 U 3098/94 - Juris.

Entsprechendes gilt für den ungehinderten Zugang zu bzw. das Auseinanderströmen von einer Versammlung.

Wie oben bereits erläutert, fehlt es aber an konkreten Anhaltspunkten für eine Begehung von Straftaten durch die Klägerin, so dass eine hinreichend objektive Tatsachengrundlage für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nicht bestand.

Im Spannungsverhältnis zwischen der Wahrnehmung des Demonstrationsgrundrechts (einschließlich des ungehinderten Zugangs und Auseinanderströmens) und dem berechtigten Interesse der Polizei an Strafverfolgung bei Unfriedlichkeiten ist zu berücksichtigen, dass das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht dadurch unterlaufen werden darf, dass an die Bejahung der Teilnahme an Gewaltakten zu geringe Anforderungen gestellt werden. Da sich Gewalttätigkeiten kaum jemals ganz ausschließen lassen, liefe der einzelne Versammlungsteilnehmer ansonsten Gefahr, allein wegen des Gebrauchmachens von seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit mit Strafverfolgungsmaßnahmen überzogen zu werden,

vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 21.04.2010 - 18 K 3033/09 - Juris.

Ausgehend davon, dass in Bezug auf die Klägerin keine konkreten Tatsachen vorliegen, dass diese sich einer Teilnahmehandlung an einem Landfriedensbruch schuldig gemacht haben könnte, liegt ein Straftatverdacht, welcher nach § 163 b StPO eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Identitätsfeststellung rechtfertigen könnte, nicht vor.

Dass im Übrigen auch der Beklagte selbst den Schwerpunkt seines Vorgehens nicht auf Strafverfolgung gelegt hat, wird indiziell dadurch belegt, dass der Klägerin kein Strafvorwurf eröffnet und sie hierzu auch nicht vernommen worden ist. Auch nach ihrer Entlassung am Folgetag ist die Klägerin, deren Identität ja bekannt war, nicht zwecks Durchführung weiterer Ermittlungen vorgeladen worden.

Im Übrigen hält das Gericht die Einschätzung des Beklagten, die überwiegende Mehrheit der Gruppe in der Rheingasse habe ein erheblich gewalttätiges Verhalten gezeigt, angesichts der Ausstrahlungswirkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit nicht für ausreichend tragfähig, um strafprozessuale Maßnahmen gegen sämtliche anwesende Personen in der Rheingasse einzuleiten.

Insoweit ist zu berücksichtigen, dass derjenige, der damit rechnen muss, dass er bei seiner Teilnahme an einer nicht verbotenen Versammlung bzw. auf seinem Rückweg von dieser einer Identitätsfeststellung unterzogen, fotografiert und zum Polizeipräsidium bzw. einer Gefangenensammelstelle gebracht wird, es sich künftig genau überlegen wird, ob er von seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen will,

vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 21.04.2010, a.a.O.

Lagen die Voraussetzungen für eine Identitätsfeststellung nach § 163 b StPO mangels Anfangsverdachtes gegen die Klägerin nicht vor, so stellt sich die hierauf gestützte Einkesselung zum Zwecke der Ermöglichung der Identitätsfeststellung als rechtswidrig dar.

Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr darauf an, dass die nach § 163 b S. 1, 2. Alt. StPO i.V.m. § 163 a Abs. 4 Satz 1 StPO gebotene Belehrung über den Strafvorwurf - soweit ersichtlich - nicht erfolgt ist,

vgl. hierzu: KG Berlin, Urteil vom 12.06.2002 - (5) 1 Ss 424/00 (6/01) - , Juris.

Die Klage ist des Weiteren begründet, soweit die Klägerin die Feststellung begehrt, dass ihre Verbringung zur Gesa nach Brühl mittels eines Gefangenentransports zwecks Identitätsfeststellung rechtswidrig war.

Die Rechtswidrigkeit folgt daraus, dass bereits die Einkesselung zum Zwecke der Identitätsfeststellung - wie oben dargelegt - rechtswidrig war. Ungeachtet dessen unterliegt die Maßnahme der Freiheitsentziehung zum Zwecke der Identitätsfeststellung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Identitätsfeststellung darf danach nur in dem für die Klägerin am geringsten beeinträchtigenden Maß durchgeführt werden. Ausgehend hiervon drängt sich die Frage auf, warum die Identität der Klägerin nicht bereits vor Ort festgestellt werden konnte. Die Klägerin hat insoweit - ohne dass dies vom Beklagten bestritten worden wäre - erklärt, ihre Personalien seien vor der Verbringung in den Gefangenenbus überprüft worden. Hinzu kommt, dass alle Personen, die sich um 20.29 Uhr noch in der Einschließung befanden, nach Aufnahme ihrer Personalien entlassen worden sind. Warum diese Vorgehensweise nicht auch bei den übrigen Personen möglich war, erschließt sich nicht. Soweit wegen personeller Engpässe eine Personalienfeststellung vor Ort nicht durchgeführt worden sein sollte, ist allerdings darauf hinzuweisen, dass auch mit der Verbringung der eingekesselten Personen nach Brühl ein erheblicher logistischer Aufwand verbunden war.

Die Klage der Klägerin ist schließlich begründet, soweit sie die Feststellung begehrt, dass ihr Festhalten in der Gefangenensammelstelle bis in die Morgenstunden des 21.09.2008 rechtswidrig gewesen ist.

Waren bereits die Freiheitsentziehung durch die Einkesselung sowie die Verbringung nach Brühl weder nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW noch durch § 163 b StPO gerechtfertigt, so gilt dies wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erst Recht bezüglich des Festhaltens in der Gesa.

Eine Rechtsgrundlage für das Festhalten der Klägerin bis zum nächsten Morgen ist unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt erkennbar.

Nach § 163 c Abs. 1 Satz 1 StPO in der bis zum 31.12.2009 geltenden Fassung darf eine von einer Maßnahme nach § 163 b StPO betroffene Person in keinem Fall länger als zur Feststellung ihrer Identität unerlässlich festgehalten werden. Auch für den Fall der Identitätsfeststellung nach § 163 b StPO ist nach § 163 c Abs. 1 Satz 2 StPO die unverzügliche Vorführung vor einem Richter vorgesehen, welche hier nicht erfolgt ist. Letztlich überschritt die Freiheitsentziehung zum Zwecke der Identitätsfeststellung auch die in § 163 c Abs. 3 StPO a.F. vorgesehene Höchstdauer von 12 Stunden.

Zu beanstanden ist des Weiteren, dass die Klägerin nach der Erfassung ihrer Personalien um 1.41 Uhr und der Fertigung eines Lichtbildes um 1.37 Uhr noch in eine Gewahrsamszelle gebracht worden ist, von wo aus sie erst um 3.07 Uhr entlassen wurde. Eine Rechtsgrundlage hierfür ist nicht ersichtlich. Im Übrigen hätte es gerade angesichts der vom Beklagten geltend gemachten Überbelegung der Gesa nahegelegen, die Klägerin und die weiteren in Bussen wartenden Personen aus dem Bus heraus zu entlassen.

Zudem war die Freiheitsentziehung wegen der Nichtbeachtung des Richtervorbehalts rechtswidrig. Nach Art. 104 Abs. 2 GG hat nur der Richter über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung zu entscheiden. Diese verfassungsrechtliche Anforderung findet ihre einfachgesetzliche Konkretisierung in § 163 c Abs. 1 Satz 2 StPO und § 36 PolG NRW, die eine unverzügliche Vorführung vor einen Richter vorsehen. Zu beanstanden ist in diesem Kontext die Vorgehensweise des Beklagten, der diensthabenden Richterin des Amtsgerichts Köln, welche in der Gefangenensammelstelle in Brühl zugegen war, jedenfalls ab den Abendstunden keine Gefangenen mehr vorzuführen. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass der Richterin nach dem unwidersprochenen Vortrag im Parallelverfahren 20 K 6004/09 zwischenzeitlich mitgeteilt worden war, sämtliche Festgenommenen würden entweder in Köln oder vor Ort entlassen. Der Verstoß gegen den Richtervorbehalt kann auch nicht durch die ins Feld geführten logistischen Probleme und die vorrangige Betreuung von Jugendlichen gerechtfertigt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.